Die Armen sind die Kirche - Auszüge

Gespräche mit Joseph Wresinski über die Vierte Welt

Das Interview mit Père Joseph führte Gilles Anouil


Eine andere Lebensweisheit
(Seiten 79-82) 

Gilles Anouil - Wir kommen jetzt auf dieses Volk zu sprechen. Sie selbst haben es «die Vierte Welt» genannt. In Frankreich sind es mehr als zwei Millionen, und sie bilden ein Volk, sagen Sie. Für viele Menschen in unserem Land ist das nicht ohne weiteres glaubhaft.

Père Joseph - Für viele ist es sicher schwierig, die ärmste Bevölkerung als ein Ganzes zu verstehen, sie mit ihrer Geschichte und ihrer Lebenserfahrung, die oft über Generationen zurückreicht, anzuerkennen. Die Schwierigkeit kommt vielleicht in erster Linie daher, dass wir eine Bevölkerungsgruppe, die allem Anschein nach Bestandteil unserer eigenen Gesellschaft ist, nur dann anerkennen können, wenn wir in ihr vertraute Züge, eine Art Verwandtschaft entdecken. Diese lässt uns brüderliche Beziehungen anknüpfen und einen Austausch pflegen. Nun hat aber bei den Familien am Fusse der sozialen Stufenleiter die Unterentwicklung ein solches Ausmass angenommen, dass ihre Mitbürger sie nicht mehr als ihresgleichen ansehen können. Unter diesen Umständen haben sie Mühe, sich für die Lage dieser Familien verantwortlich zu fühlen. Sie kommen nicht einmal auf den Gedanken, dass sie irgend etwas mit ihnen zu tun haben. Das ist der Grund, weshalb das Subproletariat unserer Gesellschaft, bzw. unseren Gesellschaften, so fremd bleibt.

Sie sagen «unsere Gesellschaften». Sprechen Sie von den europäischen Staaten?

Ich spreche für den Westen im allgemeinen, sicher für alle industrialisierten Länder, alle Länder, die die Erinnerung an das Elend innerhalb ihrer eigenen Grenzen verloren haben.
Die Verantwortungslosigkeit der Begüterten zieht übrigens jene der Ärmsten nach sich. Die Subproletarier selber sind sich nicht bewusst, dass sie an der Geschichte der andern teilhaben. Und das ist begreiflich. Sie fühlen sich heute also nicht mit verantwortlich für diese Geschichte. Sie handeln, als wären sie eine Republik für sich. Wer sich ihnen nähert, nähert sich wirklich einer eigenen Welt, die überraschend und unverständlich ist. Das ist eine Sache der Einfühlung: Aussenstehende sehen nicht, inwiefern es sie etwas angehen könnte, was diese Familien erleben, und vor allem wie sie damit umgehen. Sie sehen es um so weniger, als die Familien alles, was sie mit ihnen tun möchten, zunichte zu machen scheinen.
Vergessen wir nicht, dass das Subproletariat durch seine Geschichte, durch seine Lebensumstände nicht dieselbe Logik hat wie wir. Es hat eine andere Lebensweisheit, sie führt zu andern Verhaltensweisen. Auch wenn seine Kultur die gleichen Grundelemente hat wie die unsere - ihr innerer Zusammenhang ist ein anderer. Die Handlungen der Subproletarier lassen sich nur auf dem Hintergrund ihrer eigenen gemeinsamen Geschichte analysieren. Nehmen Sie das Beispiel einer Familie, deren Wohnsituation absolut unbeschreiblich ist: eine Hütte, eine Garage, ein Lastwagen ... Jemand will sie da herausholen, etwas unternehmen, um für sie eine Wohnung zu finden. Er geht so weit, sich dem verständnislosen Kopfschütteln seiner Freunde auszusetzen, er leistet persönlich Bürgschaft. Und dann, wenn das Ziel erreicht ist, weigert sich die Familie umzuziehen. Sie beteuert, sie habe um nichts gebeten, und man muss froh sein, wenn sie einen nicht gerade beschimpft. Oder dann flieht sie, ohne einen auch nur zu benachrichtigen. Da steht nun dieser Mensch guten Willens, eine Wohnung am Hals und gründlich blamiert, und jedermann sagt ihm: «Wir haben Sie doch gewarnt ...» Aber die Familie hatte ihre Gründe. Sie hatte nie eine solche Wohnung gehabt; vage sah sie neue Schwierigkeiten auf sich zukommen: die Bezahlung der Miete, die neue Umgebung, deren Augen auf sie gerichtet sein würden, die unvermeidlichen Auseinandersetzungen mit dem Hauswart, der Verlust einiger alter Freundschaften, das Ausbleiben gewohnter Hilfeleistungen. Für eine Gesellschaft, die eine gewisse Kultur des Wohnens und der nachbarschaftlichen Beziehungen besitzt, ist es schwer zu verstehen, was es bedeutet, davon nichts mitbekommen zu haben. Wir überlegen uns nicht, dass wir durch die Umsiedelung einer so armen Familie deren Beziehungsnetz zerreissen, das sowieso schon äusserst schwach und gerade deshalb um so kostbarer ist. Wir laufen auch Gefahr, die familiären Bande zu zerreissen. Ich habe gesehen, dass Väter nach einer solchen Entwurzelung ihre Arbeit aufgaben, die sie mit soviel Mühe gefunden hatten, oder dass Mütter einen anderen Partner nahmen.
Für jemand, der das Milieu nicht kennt, ist all das unverständlich: war diese Familie nicht schon oft umgezogen? Das stimmt, sie war von einem möblierten Zimmer in einen Keller gezogen, vom Keller auf den Dachboden, vom Wohnwagen ins Zelt, von der Elendswohnung ins Abbruchhaus. Aber bei all diesen Ortswechseln (es ist schwer, sich das klarzumachen) hatte sie nie ihr Milieu verlassen. Ihr Milieu selber hat ihr die Adressen gegeben und die Mittel, von einem Ort zum andern zu gelangen. Durch den Eingriff von aussen hat man sie von ihrer eigenen Welt abgeschnitten und in eine andere verpflanzt, wo die Beziehungen auf andern Konventionen beruhen.
Ich habe es erlebt, dass solcherart umgesiedelte Familien die Person, die ihnen die neue Wohnung besorgt hatte, als Geisel benutzten. Sie riefen ständig ihre Vermittlung an, um immer neue Hilfeleistungen zu fordern, und bei der kleinsten Weigerung redeten sie in der Umgebung schlecht über sie. Das ist nur eines von vielen Beispielen für die verwirrenden Beziehungen zwischen zwei Welten, die jedem guten Willen, jeder selbstlosen Annäherung im Wege stehen. Man dachte, man hätte es mit einem Teil seiner eigenen Welt zu tun, mit einer Familie, die einfach in Schwierigkeiten geraten ist. Aber während wir glauben, ihre Sicherheiten allmählich zu festigen, zerstören wir sie gerade. Da wir uns dessen nicht bewusst sind, werden wir sie schliesslich früher oder später anklagen: «Mit diesen Leuten kann man nichts machen.» Das ist kein leichtfertig hingeworfener Satz. Er steht für die Erfahrung einer ganzen Gesellschaft, die es zugelassen hat, dass ein Teil ihrer Angehörigen ins Abseits geriet. Sie weiss nicht mehr, wie sie wieder mit ihnen in Kontakt kommen soll, sie stellt sich dabei ungeschickt an. Leider ist nicht sie es, die den Preis für ihr unbeholfenes Vorgehen bezahlt. Die Menschen guten Willens haben nach einer Enttäuschung tausend Möglichkeiten, sich wieder zu fangen; ihr Ruf und ihre Sicherheiten stehen nicht wirklich auf dem Spiel. Die Familien aber haben keinen Rückhalt. Sie sind noch etwas mehr geächtet, etwas mehr zerstört als vorher.


Den Ärmsten den Vorrang geben
(Seite 219)

Ich denke an eine Mutter. Sie hat acht Kinder und unerhörte Schwierigkeiten, das Familiengeld, eine Wohnung und kostenlose Verpflegung in der Schule zu erhalten. Ihr Mann arbeitet nicht, und sie ist auch nicht formell mit ihm verheiratet. Auf der Gemeinde sagt man von ihr: «Man muss schon eine erbärmliche Person sein und auf alles pfeifen, um acht Kinder zu haben. Für wen hält sie sich? Geht auf der Gemeinde aus und ein, um Hilfe zu erbitten ...»
Überall, wo sie hingeht, löst diese Frau einen Wirbel aus, sie ist ein Störenfried und bringt die Beamten auf dem Sozialamt oder auf dem Wohnungsamt in Verlegenheit. Mit ihren vielen Kindern und ohne Einkünfte stellt diese Frau in der Tat unsere Gesellschaft und unser Menschenbild vor ein grundlegendes Problem. Sie ist ein Testfall für unsere Ehrlichkeit in bezug auf die Menschenrechte. Ihr Mann ist Analphabet und vom Leben tief verwundet, er kann keine berufliche Verantwortung wahrnehmen. Er war nie in der Arbeitswelt integriert und hat sich deren Anforderungen und deren Logik nicht zu eigen gemacht. Geben wir ihm Arbeit und Ausbildung, weil wir denken, dass er rentabel sein wird, oder weil er ein Recht darauf hat, als nützlich anerkannt zu sein? Sagen wir ihm, wie ich es gern und oft tue: «Du bist da, wir sind da, wir sind durch dasselbe Menschenlos verbunden, und das ist für uns beide eine Chance.»?
In Wirklichkeit werden die Institutionen eine Ausrede finden, um ihm nichts zu geben ausser eine magere Unterstützung von der Sozialhilfe. Die Familie wird weiterhin in jeder Hinsicht als minderwertig behandelt werden. Also Menschenrechte für wen? Befreiung für wen?


Die Prioritäten umkehren
(Seite 217)

Eine Gesellschaft, die das Recht hat, auch nur einen einzigen Menschen ohne Arbeit, ohne Schrift, ohne Wohnung, ohne politische Beteiligung, ohne Gebet oder ohne Kenntnis von Gott zu lassen, wird diese Dinge morgen auch andern vorenthalten. Eine solche Gesellschaft, Schule oder Kirche gleicht einem Haus ohne Fussboden, und Kinder, Menschen können ihr nach unten entgleiten. Den Reichen wird es wahrscheinlich gelingen, sich festzuklammern; die Geringen, die Personen und Familien ohne grosse Reserven, werden in den Abgrund fallen. Das ist ein Grund, alle Kämpfe, die nur das Interesse unserer eigenen Gruppe und die Verteidigung unseres Terrains im Auge haben, aufzugeben und die Prioritäten umzukehren. Wenn wir die subproletarischen Arbeiter zur Quelle unseres Denkens und zum Antrieb unseres Handelns machen, dann bauen wir eine Gemeinschaft, in der es allen wohl ist. Das Subproletariat schreit den Skandal von heute heraus; es ahnt und verkündet auch den Skandal von morgen.


© NZN Buchverlag 1997 22.04.99/mrb/mbs/